Sand im Getriebe



Festen Schrittes strebt eine Frau mit schlanker Gestalt dem Rednerpult im Kreistag des Main-Taunus-Kreises zu. Rock und Lippen leuchten rot. Nicht nur deshalb fällt Beate Ullrich-Graf auf. Sie bleibt freundlich, während sie laut und akzentuiert ihr Anliegen vorträgt. Sie redet frei. Nur ein paar Stichpunkte hat sie mitgebracht. Das unterscheidet sie von manch einer jungen Abgeordneten, die ihre Beiträge vorformuliert hat. Im Jahr 2006 hat sie für die Wählergemein-schaft „DIE LINKE.Main-Taunus“ zum ersten Mal für den Kreistag des MTK kan-didiert. Seitdem ist sie Abgeordnete im Kreistag. Seit 2021 als Parteilose für die Partei DieLinke. Die Hartz-IV-Gesetze, die 2005 von der rot-grünen Koalition im Bundestag verabschiedet wurden, haben sie veranlasst, sich diesem Bündnis anzuschließen, das in Folge dieser Gesetze entstanden ist.
Beate Ullrich-Graf interessiert sich seit ihrer Schulzeit in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg für Gesellschaftspolitik. Durch den Vater, der für die Freien Wähler im Stadtparlament saß, hat sie Einblicke in die Abläufe der Kommunal-politik bekommen. Damals hat sie sich an außerparlamentarischen Vereinen und Initiativen beteiligt und ist zu den Versammlungen der Jusos gegangen. In dieser Zeit, die sie geprägt hat, habe es einen linken Trend in der Jugend gegeben. Während ihrer Schulzeit hätten nur 7% eines Jahrgangs Abitur machen können. Sie erlebte die Wende in der Bildungspolitik nach dem Bau der Mauer. „Vorher kamen die gut ausgebildeten jungen Leute aus der DDR“. Nach dem Mauerbau habe der Staat etwas verändern müssen. Das Bewusstsein in der Ge-sellschaft für die Notwendigkeit, sowohl Kindern aus sozial schwächeren Fami-lien als auch Mädchen eine gymnasiale Schulbildung und ein Studium zu ermög-lichen, wuchs. Mit diesen Erfahrungen blickt sie heute auf die Bildungs- und Migrationspolitik und zieht Vergleiche. Ihre drei Kinder, die heute schon erwachsen sind und selbst Kinder haben, hat sie als Elternbeirätin durch die Schulzeit begleitet. Und so interessiert sie sich heute noch für Themen rund um Schule, Kinderbetreuung und Bildungsgerechtigkeit.
Sie sitzt in der Küche ihres in die Jahre gekommenen Hauses und erzählt. Sie taucht in ihre Jugend ein. Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. Sie sei heute noch dankbar, dass ihr Vater sie zur Ausbildung im Hotelfach in die Schweiz ge-schickt habe. Dort habe sie junge Menschen aus der ganzen Welt getroffen. Ein junger Mann erzählte ihr von Menschen in Indien, die in Käfigen gehalten wur-den. Auch traf sie dort auf Schüler und Schülerinnen, deren Eltern in der Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten nach Südamerika emigrierten. Dieser Austausch habe ihr den Blick für die Probleme in der Welt geweitet.
Mittags kommt ihr Mann, der ebenfalls in der Wählergemeinschaft aktiv ist, in die Küche, macht sich sein Essen warm, setzt sich still dazu und zieht sich wieder zurück. Sie kennen sich seit ihrer Jugend.
Zur Friedensdemonstration in Frankfurt gehen sie gemeinsam. Es regnet. Der rote Regenschirm leuchtet neben den roten Fahnen der Partei DieLinke im Grau der verregneten Stadt. Während des ersten Irakkriegs, 1990/91 zwischen dem Irak und Kuweit ausgefochten wurde, schloss sie sich der Hofheimer Friedens-initiative an. In diesem Krieg griff die USA erstmals mit einem militärischen Großeinsatz im Nahen Osten ein. Später waren es der Einsatz der NATO im Ju-goslawienkrieg und die Änderung der Sicherheitsdoktrin nach den Ereignissen am 11.9.2001 in New York, die sie nachdenklich gemacht haben. Heute de-monstriert sie für eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg. Sie kann die Ent-behrungen der Menschen in der Ukraine nachempfinden. „Die armen Men-schen, die jetzt, wo der Winter kommt, ohne Wasser und Strom in der Ukraine sitzen.“ Ihre Stimme bricht ein wenig.
Das Pro-Kopf-Einkommen im Main-Taunus-Kreis ist hoch. Die Lebensqualität gehört zu den höchsten in Deutschland. Wen vertritt eine Politikerin, die hier für die Partei DieLinke im Kreistag sitzt? „Der südliche Teil, Hattersheim-Okrif-tel, wo ich wohne, liegt an der Grenze zu Frankfurt-Sindlingen“. Dieser Stadtteil begrenzt den Industriepark Höchst von Osten. So gibt es in Hattersheim-Süd die Hochhäuser mit Arbeitern, Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfängern und Migranten. Und auch in den von Einfamilienhäusern dominierten anderen Orten des MTK gibt es solche Viertel. Hier leben die Adressaten ihres politischen Engagements. „Die Wähler der Linkspartei entsprechen nicht der Zielgruppe ihrer politischen Arbeit“, stellt sie fest, ohne sagen zu können, wen ihre Zielgruppe wählt.
„Wir sind ein Störfaktor im Parlament“, sagt sie auf ihre 16-jährige Arbeit als Kreistagsabgeordnete zurückblickend. Sie stellt Anträge, von denen sie weiß, dass sie abgelehnt werden. Anträge zur angemessenen Erhöhung von Leistun-gen für Unterkunft und Heizung für Hartz-IV-Empfänger bei steigenden Mieten im Kreis oder ein Sozialticket für den RMV. Manches Mal sei es eine reine Machtdemonstration, wenn die Koalition aus CDU, FDP und Grünen Anträge ablehne, nur um einen eigenen Antrag zum Thema zu stellen. Das falle jedoch niemandem auf, weil kaum Publikum an Sitzungen teilnehme. Wenn Publikum käme, habe dies direkt Auswirkungen auf das Abstimmungsverhalten der Ab-geordneten.
Auch wenn der MTK zu den reichsten Kreisen Deutschlands gehöre, hätten es sozial Schwache hier nicht etwa leichter. Nicht die Arbeitsagentur, sondern ein eigenes Jobcenter betreut im MTK die sozial Schwachen. So könne der Kreis seine eigenen Regeln machen, die nachteiliger für diese Menschen wären. Sie erwähnt die Anträge auf Lernförderung – besser bekannt als Nachhilfe. Bedarfs-empfänger müssten nachweisen, dass das Kind Förderung brauche. Anderswo finanziere die Arbeitsagentur dies ohne Nachweis. Über das Motto „Fördern und Fordern“ sagt sie: „Ehrlicher wäre zu sagen: Wir geben denen, die alles or-dentlich beantragen und nachweisen können.“ Und das könnten viele Menschen, die Hilfen zum Lebensunterhalt benötigten, eben nicht.

Viele junge Leute engagierten sich nicht für linke Politik, weil sie berufliche Nachteile befürchteten. Sie hinterfragten Verhältnisse nicht, die für die Jugend in ihrer Generation unannehmbar gewesen seien. Sie nennt Anforderungen an Flexibilität, befristete Arbeitsverhältnisse, Heimarbeit, Arbeitsverdichtung, Leistungskontrollen und Kameraüberwachung als Beispiele.
Noch einmal möchte sie nicht für den Kreistag kandidieren. Sie würde ihr Mandat gerne für den Rest der Wahlperiode an einen jungen Nachrücker oder Nachrückerin übergeben. Leider sieht sie niemanden, der oder die dazu bereit wäre. So wird sie voraussichtlich noch die nächsten drei Jahre engagiert die Anliegen der sozial Schwachen des MTK im Kreistag vortragen und etwas Sand ins Getriebe des Kreistags werfen.

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